Neue Musik und Hirnforschung: eine Polemik

, Theorie


An diesem Wochenende findet in Kempten das Zeitklänge-Festival für Neue Musik statt, bei dem sich Konzerte, Gesprächskonzerte und wissenschaftliche Vorträge abwechseln. Der Wissenschaftsjournalist Christoph Drösser von der ZEIT berichtet: Zu schräg für unser Gehirn. Ich ergreife die Gelegenheit beim Schopf und räsoniere über die neurowissenschaftliche Erforschung der Musikwahrnehmung und die aus dieser Richtung unternommenen Versuche, die Unbeliebtheit Neuer Musik zu erklären.

Kurz gesagt fehlen der Neuen Musik aus der Sicht des Neurowissenschaftlers Strukturen, die a) wiedererkannt werden können und b) dann auf irgendeine Weise Lust- oder Glücksempfindungen hervorrufen. Dies könne nicht nur durch als positiv empfundene Konsonanzen im Gegensatz zur dissonanten Neuen Musik bewirkt werden, sondern auch mit dem “Spiel von erfüllten oder enttäuschten Erwartungen”, an denen der Mensch offenbar große Freude hat. Indem Neuer Musik wiedererkennbare Strukturen abgingen, fehle dafür bereits die Voraussetzung. Sie verweigere sich dem Bezug auf die “Grammatik” von Musikstilen, mit denen der Hörer bereits vertraut ist und von der aus der sich auch schrittweise Neues erschließen könne - aber der Sprung sei zu weit. Im Geiste Adornos, der gegen Emotionalität und Gefälligkeit etwa im Jazz wetterte und stattdessen maximale Innovation einforderte, ist der typische Komponist Neuer Musik demnach bedacht, derartige Appelle an das „Lustprinzip“ zu vermeiden.

Diese Analyse trifft zwar zu, greift aber zu kurz. Aus der Sicht des Musikers läßt sich zum einen die mangelnde Anschlußfähigkeit der Neuen Musik an bereits bekannte und vom Hörer als sinnvoll gehörte musikalische Strukturen zugespitzt so kritisieren, daß eine Komposition nach so strengen formalen Prinzipien wie beispielsweise im Serialismus gar keine musikalische Syntax mehr hat, sondern eine außermusikalische. Mit Musik hat sie nur noch das Klangliche gemein, ihre Syntax gehorcht aber Prinzipien der Mathematik. (Aus der Außenperspektive hat die gleichwohl häufig anzutreffende traditionelle Morphologie Neuer Musik durch die Verwendung traditioneller klassischer Musikinstrumente im Kontrast dazu gelegentlich eine eher komische Wirkung). Deswegen ist sie auch nicht mit der Methode entschlüsselbar, mit der man normalerweise Musik versteht, nämlich dem, nun ja, Musik hören. Ähnlich wie manches Exponat einer Kunstausstellung eigentlich überflüssig ist, weil alles, was es zu verstehen gibt, im Katalog steht, kommt Freude bei Neuer Musik oft nur dann auf, wenn man die Partitur mitliest oder gar im Stillen die Partitur studiert und dazu die Erläuterungen des Komponisten oder eines Insider-Musikkritikers.

Das verweist schon auf den zweiten Punkt, den ich machen möchte. Die Frage ist nämlich, was jemand eigentlich kommunizieren möchte, der Neue Musik schreibt (oder besser gesagt gefühlt paradigmatische Neue Musik, denn die Neue Musik ist ja beileibe nicht einheitlich und umfaßt viele Werke und Komponisten, auf die all das, was hier steht, gar nicht zutrifft). Wenn ein Komponist sich entschließt, etwas zu komponieren, das eine nicht-musikalische Syntax hat, könnte er ja eigentlich viel deutlicher und auch preiswerter einen Essay schreiben und eine Partitur und seine verschiedenen Berechnungen im Klartext anhängen. Anders gefragt, wovon handelt ein typisches Werk der Neuen Musik?

Die Konzentration auf die neurowissenschaftlichen Aspekte der Musikrezeption lenkt nämlich ab von einem anderen, ebenso wichtigen Aspekt: Musik ist zugleich ein kultureller Code. Sie ist nicht gleichsam frei schwebend ohne kulturellen Bezug eine Technik, das zentrale Nervensystem des Menschen möglichst effektiv anzuregen. Das tut sie auch, indem sie eben eine musikalische Syntax hat und keine außermusikalische. Aber sie bedeutet auch etwas. (Auf die philosophische Frage einer Musik-Semantik, wie also musikalische Syntax überhaupt eine Bedeutung tragen kann, gehe ich hier lieber nicht ein.) Mit einem Bach-Choral entsteht eine historische Periode, eine religiöse Haltung, ja eine ganze Weltsicht in der Vorstellung des Hörers, die sich natürlich krass unterscheidet von dem, was etwa ein Song der Beach Boys hervorruft. Die Präzision, mit der wir Musik historisch und milieuspezifisch zuordnen können, belegt den außerordentlichen Reichtum an Bedeutung, den Musik transportieren kann - mit musikalischer Syntax, wohlgemerkt. Die musikalische Syntax mit, technisch ausgedrückt, ihren neuronalen Korrelaten ist die Ermöglichungsbedingung für bedeutungstragende und damit verstehbare Musik, aber die effektive Erregung bestimmter Hirnareale ist dafür nicht hinreichend (vgl. aber NeuroPop) - was die neurowissenschaftliche Beschäftigung mit Musik ungeheuer verkompliziert.

Ich glaube dennoch, daß Neue Musik nicht nur wegen ihrer neurologischen Dysfunktionalität so wenig Anklang findet. Denn wenn wir etwas hören, daß uns als Musik präsentiert wird, wenden wir musikalische Interpretationsmuster an, auch wenn die Komposition diese gar nicht enthält bzw. der Komponist musikalische Syntax möglichst vermeiden wollte. Im optimalen Fall kommt dabei, manchmal zum Entsetzen des Komponisten, eine Musik heraus, die etwa perfekt in Horrorfilme paßt. Im ungünstigen Fall lesen wir eine Weltsicht in die Klänge hinein, die der des Komponisten in für ihn selbst wohl überraschender Weise nahekommt. Wenn ich bis hier noch nicht polemisch war, jetzt kommt’s: die Weltsicht, die in zu vielen Werken der Neuen Musik codiert scheint, ist sektiererisch, überheblich, konstruiert - und vor allem vorsätzlich lustfeindlich. Warum sollen wir uns das antun?]]>