Vor über einem hal­ben Jahr, mir ist, als lag noch Schnee, schrieb ich zulet­zt ein Blog-Post­ing. Es han­delte von den Schwierigkeit­en, auf der The­ater­bühne Raum für Musik zu find­en. Über den Som­mer hat­te ich noch ein­mal Gele­gen­heit, dies gründlich zu erforschen. Nicht zulet­zt auf­grund voll­ständi­ger Absorp­tion durch den Proben­prozeß habe ich hier nicht von der Arbeit an Tsche­chows Möwe am Düs­sel­dor­fer Schaus­piel­haus bericht­en kön­nen. Dies will ich nun nach­holen, nicht ohne zuvor kurz auf die soeben aufgenomme Arbeit an der Film­musik zu Volk­er Schmitts Schat­ten­lin­ie zu sprechen zu kom­men.

Für den 8. Dezem­ber ist im Metrop­o­lis-Kino Ham­burg die Vor­premiere von Volk­er Schmitts Schat­ten­lin­iegeplant. Der Sound­track hierzu begin­nt, Gestalt anzunehmen. Welche Gestalt, und warum ger­ade diese, davon wird hier noch zu sprechen sein, aber ein zen­traler Musikein­satz im Film führt ger­adewegs zum The­ma “Raum für Musik”: er läuft unter einem Voice-over.

Was ist ein Voice-over? Im Gegen­satz zum Off-Text, also der Stimme ein­er Fig­ur, die in der jew­eili­gen Szene mit­spielt, aber (ger­ade) nicht im Bild zu sehen ist, ist ein Voice-over ein erzählter Text gewis­ser­maßen aus einem anderen Raum und ein­er anderen Zeit. Beim Off-Text kön­nte man, anders als beim Voice-over, durch einen gedacht­en Kam­era-Schwenk den Sprech­er ins Bild brin­gen. Ein Voice-over kann gle­ich­wohl von ein­er Fig­ur gesprochen wer­den, die in der Hand­lung vorkommt — bloß daß man diese Fig­ur dann nicht den Text sprechen sieht, selb­st wenn sie im Bild ist. Genau das passiert in “Schat­ten­lin­ie”: zwei Fig­uren sind mehrere Minuten lang schweigend in St. Pauli unter­wegs, und dazu hört man ihre Stim­men ihre Gedanken wiedergeben. Dieses epis­che Moment ist die typ­is­che Funk­tion des Stilmit­tels Voice-over.

Insofern das Voice-over (wer hat das wo schon mal im The­ater gehört? Bitte kom­men­tieren!) von den spez­i­fis­chen Möglichkeit­en der Ton­mis­chung im Film in beson­derem Maße Gebrauch macht — intime Voice-over-Stimme gegen voll orchestri­erte Musik und Straßen- bzw. U‑Bahn-Lärm -, kön­nte der Kon­trast nicht größer sein zu den Bedin­gun­gen der Düs­sel­dor­fer Möwe-Pro­duk­tion. Bei der Probe­bühne C2 des Cen­tral in der alten Paket­post, die während der Ren­ovierung des Großen Haus­es als Haupt­bühne ein­gerichtet ist, han­delt es sich um einen leicht über­akustis­chen riesen­großen Raum, der für die Möwe bis auf ein paar Stüh­le, einen niedri­gen Steg, etwas Laub und einen Vorhang kom­plett leer bleibt.

 

Regis­seurin Amélie Nier­mey­er läßt alle Beteiligten durchge­hend auf der Bühne. Bis auf wenige tur­bu­lente Momente machen die Fig­uren Kon­ver­sa­tion in für heutige The­ater­ver­hält­nisse mod­er­ater, nachger­ade “real­is­tis­ch­er” Tem­per­atur. Ihre starke Konzen­tra­tion auf den Dia­log (übri­gens, Tsche­chow ist bril­lant! Wer ihn nicht ken­nt: unbe­d­ingt lesen/sehen!) und auf das Weit­ertreiben der Hand­lung duldet Unter­brechun­gen buch­stäblich nur zwis­chen den Akten während tech­nisch unauswe­ich­lich­er Umbau-Sekun­den. Momente ohne Dia­log sind ges­pan­nte Stille. Es gibt drei “Son­der­si­t­u­a­tio­nen”, an denen Musik unter der Szene läuft, näm­lich die The­at­er­auf­führung in der Mitte des 1. Aktes, der Beginn des 2. Aktes / Boule-Spiel sowie der Beginn des 3. Aktes / Ausklang des Abschieds­fests.

Kurzum: erstens wurde der wochen­lang von allen Beteiligten betriebene Ver­such, abseits dieser drei Momente sowie der drei Aktwech­sel auch noch so zarte Cel­lo-Tupfer unter der Szene zu spie­len, schließlich wegen Aus­sicht­slosigkeit eingestellt. Stört. Zweit­ens erlaubten die rigi­den Begren­zun­gen des Raums für Musik jeden­falls mir lediglich so frag­men­tarische bzw. niedrig auflösende Elab­o­rate, daß nicht sehe, warum ich diese als Musik im eige­nen Recht rezip­ieren und etwa aufnehmen und online stellen sollte. Das ist ein­fach zu wenig.

Die (indes sehr gut vernehm­lichen) Musiken zwis­chen den Akten sind nur drei an der Zahl, jew­eils nur wenige Sekun­den lang, und dazu rasen nach stun­den­langem Min­i­mal­is­mus Schaus­piel­er, Vorhang, Lichtwech­sel, Req­ui­siten über die sich plöt­zlich schnell drehende Bühne, alles Dinge, die die Aufmerk­samkeit des Zuschauers von der Musik weg lenkt. Von den drei oben genan­nten Aus­nahme-Momenten mit Begleit­musik sind die let­zten zwei szenisch als repet­i­tiv bzw. monot­on deter­miniert und ste­hen unter der Restrik­tion, daß die Schaus­piel­er dazu ihre Texte “ganz leicht set­zen” müssen, damit ihre Hal­tung stimmt. Bleibt einzig die The­at­er­auf­führung in der Mitte des ersten Akts. Möglicher­weise machen wir davon noch mal ein Video…

Zur Abrun­dung noch ein Punkt, den ich im auf tech­nis­che Aspek­te beschränk­ten Raum für Musik-Post­ing vom ver­gan­genen März nicht behan­delt hat­te, dessen Gewicht mir aber schon länger klar ist: in der Branche Große Häuser des mod­er­nen Sprechthe­aters belegt Musik im Schnitt (!) einen hin­teren Rang, was Sachken­nt­nis und — dementsprechend? — Aufmerk­samkeit bet­rifft. Der Pro­porz, der sich von der durch­schnit­tlichen The­ater­probe über die Aus­gaben der Häuser bis hin zu den Sätzen pro Zeitungskri­tik zieht, ja gar bis in die Gespräch­san­teile nach der Probe in der Kneipe, ist kon­stant: 40% Regie, 40% Schaus­piel­er (35% große Rollen, 5% kleine Rollen), 15% Ausstat­tung, mit Glück Rest Musik. Neben indi­vidu­ellen Abwe­ichun­gen, die wie immer beträchtlich sein kön­nen, ändert sich dieser Pro­porz nur durch einen wie auch immer geart­eten Star-Sta­tus (nur inner­halb des Kul­turbe­triebs zählt!) oder per­sön­liche Beziehun­gen.

Das bedeutet für die konkrete Arbeit, daß inner­halb der üblichen ca. zwei­monati­gen Pro­duk­tion­szeit kampf­los nicht auch nur eine Stunde reg­uläre Proben­zeit dafür geopfert wird, Musik auszupro­bieren oder zu über­prüfen. Dann wären ja Schaus­piel­er Sta­tis­ten der Musik, dann würde ja nicht Szene x weit­er “gear­beit­et”! Hinge­gen ist es vol­lkom­men nor­mal, daß die Musik Sta­tis­terie der szenis­chen Probe ist, da ja schließlich ohne die Musik, die bei der vorigen Probe hier (ein)gespielt wurde, die Schaus­piel­er unmöglich ihre “Hal­tung” wiederfind­en bzw. unter opti­malen Bedin­gun­gen weit­er­en­twick­eln kön­nen. Zusät­zlich muß die musikalis­che Leitung natür­lich das Probengeschehen eng­maschig ver­fol­gen, um auf neue Erfordernisse kurzfristig und in Ken­nt­nis der Materie reagieren zu kön­nen. Im Ergeb­nis ist dem­nach Anwe­sen­heit prinzip­iell erforder­lich, sei es zum Beschallen, sei es, um nichts zu ver­passen, ohne daß jedoch auf der Probe die Musik weit­er­en­twick­elt wer­den kön­nte. Sound­check ab 22:30 nach Ende der Beleuch­tung­sprobe. “Raum für Musik”.

Was ich gesagt habe, bet­rifft beileibe nicht alle Pro­duk­tio­nen, in denen ich mit­gewirkt habe — im Gegen­teil, um ein Beispiel zu nen­nen, gab es bei Inferno/Purgatorio/Paradiso am Thalia The­ater 2001/02, Regie Tomasz Pan­dur, lux­u­riös viel Raum für Musik, auch in der Probe­nar­beit. Eben­falls ganz anders gelagert waren sämtliche Kinderthe­ater-Pro­duk­tio­nen. Ich hätte aber etwa mit der Volks­feind-Pro­duk­tion von Anfang des Jahres exakt diesel­ben Punk­te machen kön­nen, mit dem Unter­schied, daß ich dafür sehr viel “Musik im eige­nen Recht” pro­duziert habe — bloß, daß diese dann im Stück nur noch frag­men­tarisch vorkommt.

Meine zweifel­los vorhan­den eige­nen Unzulänglichkeit­en, mit solchen Bedin­gun­gen umzuge­hen, ein­mal bei­seite gelassen, ist für mich ein rot­er Faden erkennbar. Oder ein grauer… um es mit Otto Waalkes zu sagen: bei der Möwe ist mein Hemd in der ersten Hälfte maus­grau, während es in der zweit­en leicht ins Aschfahle spielt. Vorhang.

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