Vielle­icht war es den Vere­in­ten Natio­nen, als sie 1997 die Dauerbeschal­lung mit lauter Musik als Folter­meth­ode sank­tion­ierten, ein­fach zu kom­pliziert, auch die Beschal­lung mit zugle­ich schlechter und eingängiger Musik als Folter zu brand­marken. Für eine ver­heerende Wirkung muß ein fieser Gassen­hauer nicht beson­ders häu­fig wieder­holt wer­den, und schon gar nicht laut. Er set­zt sich mit Leichtigkeit als Ohrwurm im Kopf des bekla­genswerten Opfers fest und frißt dort dann ganz von allein weit­er. Wahrschein­lich befände sich die ehrwürdi­ge Organ­i­sa­tion im per­ma­nen­ten Rechtsstre­it mit Schlager­pro­duzen­ten, deren Elab­o­rate durch die entsprechende UN-Kom­mis­sion als poten­tielle Folter­musik geächtet wur­den. Wahrschein­lich müßte dieselbe Kom­mis­sion schon vor der Auf­gabe kapit­ulieren, angesichts der riesi­gen Unter­schiede in den Rezep­tionsvo­raus­set­zun­gen über­haupt festzu­machen, welche Musik zum Quälen welch­er Men­schen geeignet und dem­nach zu ächt­en ist. Wahrschein­lich würde die hochkarätig beset­zte Kom­mi­sion sich mit dem Kom­men­tar selb­st auflösen, daß so, wie sich ein Mess­er nicht nur dazu eignet, Zwiebeln zu wür­feln, son­dern auch jeman­den zu töten, let­ztlich jede Musik dazu mißbraucht wer­den kann, jeman­den bis zum “Brechen des Wil­lens” zu foltern (siehe Lin­kliste unten).

Als Bewohn­er ein­er in diesem Aus­maß his­torisch, räum­lich und sozial sel­ten vork­om­menden Insel der Sor­glosigkeit (Deutsch­er in Deutsch­land 2009, finanziell und sozial situ­iert, kein Risikoberuf wie z.B. Sol­dat etc.) bin ich echter Folter natür­lich noch nie begeg­net. In der All­t­agssprache wird “Folter” aber auch als Hyper­bel ver­wen­det für beliebige unan­genehme Sit­u­a­tio­nen, denen man kurzfristig nicht entrin­nen kann, beson­ders, wenn jemand einen genau deswe­gen in so eine Sit­u­a­tion bringt: “Spann’ mich nicht länger auf die Folter und sag’ mir endlich, was es zum Nachtisch gibt!”. Die durch eine, sagen wir, unwillkür­liche Vorstel­lung von als schlecht emp­fun­den­er Musik verur­sachte Pein hat auf mein Leben einen so großen Ein­fluß gehabt, daß ich die Beze­ich­nung “Ohrwurm-Folter” für mich irgend­wo in der Mitte zwis­chen der rhetorischen und wörtlichen Bedeu­tung von “Folter” einord­nen würde.

Als Schüler habe ich mir, statt zu kell­nern oder Ferien­jobs zu suchen, mit Tanz­musik etwas Geld ver­di­ent. Fre­unde, mit denen ich auch in Klas­sik-Ensem­bles und Jazzbands zusam­men­spielte, waren auch mit dabei, und beim Nach­spie­len der Cov­er-Songs entwick­el­ten wir eine Art sportlichen Ehrgeiz. Das Reper­toire reichte von Songs, die mir ziem­lich gut gefie­len, bis hinab in die Niederun­gen des Schlagers, von denen einige beson­ders pen­e­trante Ohrwürmer bei mir ziem­lich bald regel­rechte Haß-Anwand­lun­gen her­vor­riefen. Ger­ade die ein­fältig­sten Melo­di­en ver­fol­gten mich oft bis in den Schlaf. Nach einem Auftritt, bei dem der Band­leader — ein Gym­nasiallehrer, also für mich Tee­nie eine Autorität — in einem unerträglichen Akt vorau­seilen­den Gehor­sams wieder ein­mal “Das Mäd­chen Adeli­ta” durchge­set­zt hat­te, passiert es: ich liege im Mor­gen­grauen, abgrundtief erschöpft vom Auftritt bis weit nach Mit­ter­nacht, Abbau, ein­stündi­ger Aut­o­fahrt, Ein­räu­men der Instru­mente in die Garage des Band­lead­ers, bleiern­er Heim­fahrt, endlich im Bett. Mit aufgeris­se­nen Augen. Das Mäd­chen Adeli­ta hört nicht auf zu spie­len. Die falsche Fröh­lichkeit des Songs bringt mich an den Rand der Verzweifelung. Ich ste­he auf, lege mich wieder hin, lese etwas, höre ein bißchen Miles Davis — nichts hil­ft. Das Mäd­chen Adeli­ta. Ich warte bis 10:00 Uhr, bin ja kein Unmen­sch, rufe dann den Band­leader an und kündi­ge.

Ich mache sei­ther, egal wie nett oder harm­los der Kon­text, egal wie kurz, egal wie inten­siv mit dem Spaßbrem­sen-Verdikt bedro­ht, keinen Gesellschaft­stanz mit, obwohl ich mit Sechzehn den Fort­geschrit­te­nen-Kurs und auf dem Abschlußball die Sil­ber­medaille auf die Rei­he bekom­men habe. Von größer­er Trag­weite ist mein Schlager-Trau­ma für die Arbeit als Band- und The­ater­musik­er: wann immer und aus welchem Grund auch immer Schlager, Kitsch, Trash, Bad Taste, “schlecht, aber lustig” o.ä. in der Ferne auf­taucht, werde ich son­niges Gemüt plöt­zlich uner­wartet kom­pliziert. Der Tanzband­leader ist nicht der Einzige geblieben, dem ich deswe­gen gekündigt habe, und meine lieb­sten musikalis­chen Fre­unde fra­gen mich für Kitsch-verdächtige Pro­jek­te gar nicht erst an.

Zum The­ma Musik als Folterin­stru­ment (ohne Ohrwurm-Aspekt):

+ Bad Vibra­tions
+ A His­to­ry of Music Tor­ture in the “War on Ter­ror”
+ Music As Tor­ture: War Is Loud
+ Music As Tor­ture / Music As Weapon
+ State­ment against the use of music as tor­ture

Zum The­ma Ohrwurm:

+ Can’t Get It Out Of My Head (ohne Folter-Aspekt)
+ Wenn ein­mal der Wurm drin ist (mit Folter-Aspekt)

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