Aus Grün­den, über die noch zu sprechen sein wird, habe ich mir den CDU-Song zur Wahl 09 “Wir sind wir” ange­hört. Geschrieben und pro­duziert von Leslie Man­dok­ie, früher Sänger von “Dschingis Khan” grusel (für diejeni­gen, die aus Angst den Link nicht anklick­en: klingt wie das gewo­gene Mit­tel aus Rosen­stolz, Xavier Naidoo und allen Musikein­spielun­gen in deutschen TV-Soaps der let­zten Jahre). Der Song hat mich an eine Frage erin­nert, die mich 2008 im Zusam­men­hang mit der Büh­nen­musik zur Judith von Shi­mo­da schon umgetrieben hat­te: Was ist die Musik der Mitte, zu der alle dazuge­hören sollen, wenn sie keine Son­der­linge oder gar Abwe­ich­ler sein wollen? Was ist die Musik des Mark­tes, dessen Geset­zen sich alle unter­w­er­fen sollen, wenn sie nicht Spaßbrem­sen oder gar Wach­s­tumsver­hin­der­er sein wollen? Mit anderen Worten: mit welch­er Musik wird heute, mit­ten in Deutsch­land, eigentlich noch Pro­pa­gan­da gemacht?

Vorbe­merkung: in den west­lichen Demokra­tien gibt es im Unter­schied zu den hierzu­lande einst gängi­gen total­itären Regimes natür­lich keine eigen­ständi­ge Pro­pa­gan­da-Musik als Gat­tung mehr, allein schon, weil die Struk­turen nicht mehr existieren, aus denen her­aus eine solche Musik­tra­di­tion sich speisen kön­nte. So ist etwa das Mil­itär musikalisch voll­ständig mar­gin­al­isiert. Auch aus den Parteien (wie u.a. der CDU-Song deut­lich macht), Gew­erkschaften und ähn­lichen Organ­i­sa­tio­nen kommt keine spez­i­fis­che Musik.

Stattdessen gilt: “Nichts ist erfol­gre­ich­er als der Erfolg”. Ein sich selb­st ver­stärk­ender Mech­a­nis­mus normiert fort­laufend einen Main­stream, der sich ganz langsam und vor­sichtig weit­er­en­twick­elt, immer ori­en­tiert am Chart-Erfolg und der Zweitver­w­er­tung in TV-Serien, Soaps und Wer­bung. Kom­po­si­tion und Pro­duk­tion erfol­gt in enger Anlehnung an das, was der Markt in jüng­ster Ver­gan­gen­heit nach oben gespült hat. Die medi­ale Ver­w­er­tung auf allen Kanälen massiert die Musik dann in die Main­stream-Gehirne ein mit dem Resul­tat, daß sie kom­merziell erfol­gre­ich ist — und die Schleife geht wieder von vorn los.

Die Ein­heit­skost (ja, diese Meta­pher ist eine Anspielung auf McDon­alds & Co., da funk­tion­iert es näm­lich genau so), die dabei her­auskommt, ist nicht ide­ol­o­gisch gemeint, son­dern ganz harm­los auf max­i­malen Mark­ter­folg bei min­i­malem Risiko getrimmt. Heute wird Nonkon­formis­mus ja nicht mehr ver­boten, son­dern er geht ein­fach in der Infor­ma­tion­süber­flu­tung und der vielfach höheren Ver­mark­tungspow­er der Main­stream-Pro­duk­tio­nen unter. Jed­er kann machen/hören, was er will, kein­er protestiert, aber man kann ja ignori­eren, weglächeln, nicht kaufen.

Bei der Judith-Insze­nierung war die Musik der von der Gesellschaft wegen ihres Nonkon­formis­mus geächteten Pro­tag­o­nistin zuge­ord­net und daher das The­ma nicht Dekon­struk­tion des Main­stream, son­dern Auf­begehren gegen die Berieselung, die sozusagen frei­willige Kon­for­mität erzwingt. Die Ein­nor­dung nicht hin­nehmen! Kon­sumverzicht! Protest!

Doch welche Musik kön­nte diesen Protest verkör­pern? Über­raschende Fest­stel­lung: das ist gar nicht so ein­fach! Denn prak­tisch jed­er Musik gewor­dene Protest wird im Laufe der Zeit vom Main­stream schle­ichend assim­i­liert. Die schiere Laut­stärke des Schlagzeugs und verz­er­rten Gitar­ren der ’68er waren ein­mal ein Fanal — heute sind sie in jedem VW Golf zu Hause. Was ein­mal “Inde­pen­dent” oder “Gangs­ta” war, ist heute, geschrumpft zu Indie-Rock-Pop bzw. Shiny-Suit-Rap bei den Majors angekom­men. In der Wer­bung für Sports­chuhe, Autos und Mobil­tele­fon-Provider verkommt der Hauch von Wild­heit dann endgültig zur Attitüde.

Bei Judith bestand die Auf­gabe darin, der Pro­tag­o­nistin eine Musik zu geben, bei der man sich ein­fach nicht vorstellen kann, für welch­es Pro­dukt oder welche Partei damit gewor­ben wer­den kann. Klang dann so:

Judith-Med­ley by fritzfeger

Auch die CDU set­zt auf diese Insignien von Pseu­do-Jugendlichkeit, um möglichst Viele zu erre­ichen und möglichst Wenige zu ver­prellen. Der Song hat ein pseu­do-hartes Schlagzeug, pseu­do-protest­lerische Zerr-Gitarre, pseu­do-coole Gesangsphrasierung, pseu­do-emo­tionaler Belt­ing-Stimm­sitz. Das ist Schlager, das ist Kitsch. Den Text zu zerpflück­en, ers­pare ich mir hier; das haben andere schon getan, z.B. hier, hier und hier.

Hochin­ter­es­sant ist der Ver­gle­ich des CDU-Songs, sowohl bzgl. Text als auch bzgl. Musik, mit diesem Elab­o­rat von Rosen­stolz:

Vor einem Jahr hat­te ich mir noch notiert: Daß der Berieselungs-Main­stream schlecht ist, muß nicht mehr bewiesen wer­den. Das wis­sen sowieso alle, und alle wis­sen auch, wofür er ste­ht: für nichts. D.h. nichts, das man durch ihre Dekon­struk­tion mit­dekon­stru­ieren kön­nte. Das sehe ich jet­zt anders. Normierte Musik erzeugt und bestätigt normierte Gefüh­le, sie wick­elt uns ein in schönge­färbte Wat­te, in der wir uns wohlfühlen — und funk­tion­ieren, als Käufer und als Stim­mvieh. Es ist wichtig zu ver­ste­hen, warum diese Musik sich zur Selb­stvergewis­serung der Mitte so gut eignet. Das meint auch Mar­cel Reich-Ran­ic­ki:

[…] die Mehrheit des Volkes liest keine Lit­er­atur, jeden­falls keine, die sich ernst nehmen ließe. So kon­nte die her­rliche Lit­er­atur der Weimar­er Repub­lik mit Thomas Mann an der Spitze poli­tisch (gegen den Nation­al­sozial­is­mus) nichts bewirken. Es gehört übri­gens zu den Sün­den der Lit­er­aturkri­tik, daß sie sich damals um die Triv­ial­lit­er­atur, beispiel­sweise die Romane der Hed­wig Courths-Mahler, über­haupt nicht geküm­mert hat. Man hätte zeigen müssen, wie das Zeug gemacht ist. […]

Für den Fall, daß die Kri­tik dann kein­er liest, kön­nte auch der Ver­such hil­fre­ich sein, Main­stream “von innen her unmöglich zu machen”, d.h. Musik mit der Ober­flächenäs­thetik des Main­stream zu pro­duzieren, in der sich dann aber Abgründe auf­tun. Na dann.

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